Brauchen wir einen Zukunftskodex für Führungskräfte, der sie auf gesellschaftlich verantwortungsvolles und nachhaltiges Handeln verpflichtet?
Ein Denkanstoß von Ingo Rütten
„Papi, wenn ich groß bin, möchte ich einmal Managerin werden!“ Ein Satz, den Eltern wahrscheinlich selten hören werden. Polizei, Feuerwehr und Raumfahrt sind nach wie vor Traumziele bei Kindern. Seit Neuestem sind natürlich auch Influencer, YouTube-Stars oder FFF-Aktivist*in auf der Wunschliste. Aber Manager*in gehört nicht zu den Traumberufen der Generation Y – und genießt auch in der Gesamtbevölkerung meist erst dann hohes Ansehen, wenn sie/er auf dem C-Level angekommen ist.
Die unbeachteten Machtzentren
Was in diesem Zusammenhang viel zu stark unterschätzt wird: die Gestaltungskraft, die in ihren Händen liegt. Und das nicht nur im Hinblick auf den Erfolg ihres Arbeitgebers, sondern auf die gesamte Gesellschaft, in der wir leben.
Denn wenn Manager*innen mehr oder weniger erfolgreich Umsatz- und Gewinnziele, Shareholder Value-Maximierung und spezifische KPIs verfolgen, hat das einen ganz alltäglichen Einfluss auf unser Leben: auf das, was wir im Supermarkt kaufen können, darauf, welche Mobilitätsangebote man uns zu welchen Konditionen anbietet, wie umweltschädlich oder nachhaltig produziert wird, für welche Produkte und Dienstleistungen bei Verbrauchern geworben und bei den Parteien lobbyiert wird. Ob in der Werbung heteronormative Bilder vorherrschen oder im Sportsponsoring mit Regenbogenfarben Diversity propagiert wird – all das entscheiden Manager*innen. Sie arbeiten in Marketing, Vertrieb, IT, Controlling, Produktentwicklung, Personalabteilung, Produktion, Logistik. Sie sitzen nicht nur in der Geschäftsführung, sondern in Millionen Büros, Konferenzräumen und Videocalls. Diese unsichtbaren Machtzentralen bei regional einflussreichen Mittelständlern, bei DAX-Unternehmen oder in internationalen Konzernen werden von NGOs wie auch der Zivilgesellschaft noch zu wenig beachtet. Dabei spielt gerade die Werthaltung auf der mittleren Managementebene und ihre Bereitschaft, verantwortungsvoll zu handeln (oder eben nicht), eine unterschätzte Rolle, wie Studien belegen – sowohl in Bezug auf den Unternehmenserfolg als auch auf den gesellschaftlichen Impact.
Was der Gesetzgeber regeln kann – und was nicht
Doch die Erwartungen steigen, wie eine aktuelle Studie (das Edelman Trust Barometer 2021) zeigt: Eine klare Zweidrittelmehrheit der Deutschen will, dass Manager selbst aktiv handeln sollen, wenn die Politik keine Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen findet.
Die etablierten, sorgfältig abgewogenen Gesetzgebungsprozesse erscheinen gerade in Zeiten von rasanten Digitalisierungsfortschritten, eskalierender Klimakrise und einer insgesamt im konstanten „Change“-Modus befindlichen Wirtschaftswelt vielen als nicht schnell genug. Sie können nicht mit der Realität Schritt halten. So wird gesellschaftlich Wünschenswertes nur mit starker Verzögerung in klar formulierte Regelungen übersetzt. Während die Legislative die Arbeitsrechte von Lagerarbeiter*innen und –Fahrer*innen überarbeitet, hat Amazon diese im Businessplan schon längst durch Roboter ersetzt. Während bei uns die nächste Datenschutzverordnung erarbeitet wird, lagern bereits nahezu unendlich viele Bild-, Text- und Tondokumente über jeden einzelnen Menschen in weltweiten Clouds – unkontrollierbar, was Snowden, die Pegasus-Enthüllungen und diverse Hacks und Leaks in den letzten Jahren deutlich gezeigt haben.
Kann die Gesetzgebung mit einer im konstanten „Change“-Modus befindlichen Wirtschaftswelt noch mithalten?
Der Politik wird also nicht zugetraut, schnelle Antworten auf drängende und aktuelle Fortschrittsfragen zu geben; ihre Aufgabe sollte es besser sein, durch langfristige Leitplanken Orientierung und Investitionssicherheit zu geben. Also müssen die Manager*innen ran.
Alte Leitbilder – aktuelle Herausforderungen
Selbst wenn sich das Management, ganz klassisch nach Keynes, nur am Shareholder Value orientiert, so greift auch dort Artikel 14 des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Denn genau das sind ja die Shareholder: (Mit-)Eigentümer*innen. Entsprechend sollte ein*e Manager*in eben nicht nur der Maximierung der Eigentumsanteilswerte verpflichtet sein, sondern auch eben diesem „Wohle der Allgemeinheit“.
Doch wo wird das genau und einheitlich definiert? In den Bachelor- oder Masterstudiengängen, die die meisten Manager*innen durchlaufen, sucht man vergeblich nach klaren Richtlinien für verantwortliches Handeln. Erst wenn man weiter zurückblickt, stößt man auf das Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“. Die ersten Ideen reichen bis ins Mittelalter, wurden von deutschen Hansekaufleuten weiterentwickelt und sind bis heute Grundlage der IHK-Gesetze.
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Grundgesetz, Art. 14
Aber ist das nicht etwas antiquiert? Was soll ein Manager eines IT-Start-ups vom „ehrbaren Kaufmann“ schon lernen können? Dabei scheint vieles gerade heute hochaktuell: „Der ehrbare Kaufmann“ steht für verantwortliche Teilnahme am Wirtschaftsleben, für ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein für das eigene Unternehmen, für die Gesellschaft und die Umwelt. Geschäft und Wirtschaft werden nicht als Selbstzweck gesehen, sondern als Mittel zum Zweck eines guten Lebens. Doch scheint dieses Leitbild in Vergessenheit geraten zu sein.
Purpose – das Zauberwort der unternehmerischen Verantwortung?
Dass es durchaus Bedarf nach Leitlinien für die gesellschaftliche Orientierung der Manager*innen gibt, zeigt die Suche nach „Purpose“. Als Corporate Purpose wird der gesellschaftliche Daseinszweck einer Organisation beschrieben. So etwas wurde lange nur von Non-Profit-Organisationen erwartet oder war eher das philanthropische Hobby des Unternehmenspatriarchen. Aber spätestens seit Larry Fink, CEO des weltweit größten Investors BlackRock, 2019 die Purpose-Orientierung als Kriterium für seine Investitionen verkündete und im gleichen Jahr die größten amerikanischen Unternehmen im Business Round Table die Fokusverlagerung von Shareholder- zu Stakeholder Value propagierten, war das Thema in der Breite angekommen. In einer ganz aktuellen Umfrage des Unternehmer-Magazins der ZEIT vom Februar 2022 sagen sogar 97% der Befragten, dass sie es gut finden, wenn sich Unternehmer*innen Gedanken über den Zweck ihres Unternehmens jenseits von rein ökonomischen Interessen Gedanken machen.
So spannend und erkenntnisreich die Erarbeitung des eigenen Corporate Purpose auch sein kann, so groß ist die Gefahr, dass dieser entweder zu einer reinen Werbe- und Marketingveranstaltung verkommt (Stichwort: „Woke Washing“). Oder, auf der anderen Seite, zu allgemein wird und in einem seichten „We want to make the world a better place“ endet. Auch die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato warnt davor, dass solche Aktivitäten nur dem „Feel good-Faktor“ des Unternehmens dienen und keine Veränderung herbeiführen, wenn sie nicht tief in Unternehmenskultur und -handlungen verankert sind.
Die Digitalisierung verstärkt diesen Veränderungsdruck: Einerseits nutzen Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen vermehrt die gestiegene Informationstransparenz über das tatsächliche Unternehmensverhalten. Andererseits werden Kunden ermächtigt, in den Sozialen Medien jeden Schritt „ihrer“ Marken zu beobachten, den Einklang von Kommunikation, Haltung und Handeln zu überprüfen und kritisch zu kommentieren. Der Shitstorm wird zum Alptraum für jeden Manager.
Auch zeigt die Vielzahl der unterschiedlichen Wirtschaftsinitiativen und Konzepte für Diversity, Corporate Social Responsibility, Sustainability, Verantwortungseigentum, Purpose etc. die grundsätzliche Bereitschaft, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Sogar der Koalitionsvertrag widmet sich dem Thema, indem er ankündigt eine neue Rechtsform des Verantwortungseigentums mit „gebundenem Vermögen“ zu schaffen, sowie durch die Berücksichtigung von sozialen und ökologischen Aspekten bei Vergabeverfahren. Doch all das wird denn Alltag von tausenden Manager*innen in konventionellen Unternehmen kaum tangieren. Denn wirklich übergreifende gemeinsame Werte sind nicht in Sicht. Der große Wurf fehlt.
Die Frage stellt sich: gibt es aber einfache, klare und übergreifende Prinzipien, mit denen sich unternehmerisch verantwortungsvolles Handeln definieren lässt? Schließlich würde auch niemand erwarten, dass alle Ärzte ihre eigenen „Praxisleitwerte“ erarbeiten, sondern vertrauen auf Sinn und Allgemeingültigkeit des Hippokratischen Eides.
Gemeinsamer Zukunftskodex statt individueller Statements
Wäre es also nicht besser, wenn sich Unternehmen gemeinsam auf einen Ehrenkodex zu verantwortlichem Handeln verpflichten würden? Wenn Manager*innen an den Lebensadern unserer Gesellschaft operieren, müssten sie dann nicht bereits im Studium und an der Businessschool ihren „Hippokratischen Eid“ ablegen? Nicht als goldgerahmten Spruch oder feierliches Lippenbekenntnis, sondern als werte- und handlungsorientierter Zukunftskodex, der jeden Einzelnen und jede Einzelne dabei unterstützt, in der neuen VUCA-Welt verantwortlich zu entscheiden. Der hilft, dass Manager*innen ganz selbstverständlich bedenken, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen auch außerhalb des Unternehmens haben. Der die Auswirkungen auf Kund*innen, Angestellte, Nachbarschaft, die Stadtgesellschaft, den Staat, die Natur und Umwelt in Überlegungen und Handlungen einbezieht. Der eine neue Management-Generation hervorbringt, die sich ihres gesamtgesellschaftlichen Einflusses, ihrer Macht bewusst wird und verantwortlich damit umgeht. Das wäre dann wirklich eine Neuinterpretation von Management und echtes „New Work“: nicht zur persönlichen Arbeitszeitminimierung und Lustmaximierung, sondern zur Entfaltung und Verantwortungsübernahme für ihre gesellschaftliche Gestaltungsmacht.
Vielleicht sind gerade der Einschnitt durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Veränderungen der Arbeitswelt, dazu die Klimakrise und die Digitalisierung, gute Anlässe, die Ausrichtung unseres Wirtschaftens und die Verantwortung aller Manager*innen zu hinterfragen. Vielleicht gehen ja ein paar Mutige voran, zusammen mit Wirtschaftsphilosoph*innen, -wissenschaftler*innen und engagierten Unternehmer*innen, und geben sich einen solchen Zukunftskodex. Und vielleicht ziehen mehr und mehr nach – bis Aufträge und Ausschreibungen nur noch an Unternehmen mit diesem Kodex vergeben werden. Vielleicht sagt dann irgendwann irgendwo ein Mädchen: „Wenn ich groß bin, möchte ich Managerin werden. Weil ich so unsere Zukunft mitgestalten kann.“
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